Nessun Dorma
Niemand schlafe! Niemand schlafe!
Auch du, Prinzessin,
in deinem kalten Zimmer
siehst die Sterne, die beben
vor Liebe und Hoffnung!
“Ah, Madame de Montpellier!”
Suzanne hielt sich davon ab ihr Gesicht zu verziehen und auf ihren Titel in der Anrede zu bestehen, anstatt dessen blieb das unaufdringliche neutrale Lächeln einer Ärztin auf ihren Lippen.
“Monsieur Martin, einen guten Morgen.” Suzanne nahm wieder Platz und öffnete die Krankenakte von dem Funktionärs der EU auf ihrem Pad, welcher ihr gegenüber Platz nahm mit seinem üblichen selbstsicheren Grinsen. Trotz der hohen Qualität und obwohl sein Anzug mit Sicherheit maßgeschneidert war, wölbte sich sein Wohlstandsbauch über den Hosenbund.
“Wo ist denn, Monsieur le docteur?”
Monsieur le docteur war in diesem Fall ihr Ex-Mann und für ihn hatte Monsieur Martin anscheinend ausreichend Respekt übrig, um ihn als Doktor anzuerkennen. Wahrscheinlich hatte Vincent ihn ausreichend oft im Golf geschlagen, um sich die Anerkennung zu verdienen. Und auch jetzt war ihr Ex sicher wieder irgendwo golfen, essen oder auf irgendeiner Einladung von irgendjemandem mit einem ausschlaggebenden Namen in der EU. Zumindest war er eindeutig nicht in seiner eigenen Praxis in der sie selbst bedauerlicher Weise immer noch arbeitete während sie auf einen Anruf des Hôpital Pitié-Salpêtrière wartete für eine mögliche Vakanz in der Gefäßchirurgie. Zwar würde dies bedingen, dass sie weiterhin in Paris blieb, aber sie versuchte alle Hoffnungen, die sie für die andere Zukunftsperspektive, die sich vor einiger Zeit unverhofft durch einen Hinweis unter der Hand von Frau Bauer, einer Abgeordneten des Verteidigungsministeriums der EU, eröffnet hatte, möglichst gering zu halten. Und so musste sie sich jetzt anhören, dass Monsieur Martin einen Ausschlag an einer unangenehmen Stelle hatte.
Es war bereits dunkel, als sie nach Hause zurückkehrte. Nach Hause meinte in diesem Fall ihre neue Wohnung, die sie seit einem halben Jahr bewohnte. Als sich das Licht einschaltete, sobald sie durch die Wohnungstür trat, wurden weiterhin kahle weiße Wände beleuchtet. Sie hatte in all den Monaten noch keine Muße gehabt die Einrichtung, welche sie mit der Wohnung gekauft hatte und welche weiterhin entsprechend elegant aber unpersönlich aussah, zu personalisieren. Ihr erster Weg führte zu ihrem Kühlschrank, welcher ein separates Weinfach hatte (und das einzige gefüllte Fach ihres Kühlschranks war), und samt Flasche wanderte sie weiter zur Couch. Während die Flasche, für ein Glas war sie zu genervt, an ihre Lippen wanderte, streifte sie sich ihre Pumps genüsslich von den Füßen und ließ sich auf dem weichen Sitzmöbel mit einem Seufzen nieder. Nach wenigen Worten an das System, welches die Elektronik ihrer Wohnung steuerte, erklangen getragene Streicher und ein Spinett durch das Wohnzimmer und sie legte die Beine hoch mit einem erneuten Schluck aus ihrer Flasche.
“Ombra mai fu, di vegetabile, cara ed amabile, soave più…” Die übertriebenen gesungenen Liebesbezeugungen des Countertenors an einen besonders hervorragend schattigen Baum wurden von dem elektronischen Surren der Türklingel unterbrochen und verstummten nach einem genervten “Stopp” von Suzannes Lippen. Das System kündigte ihr einen Replikanten an, der ihr wohlbekannt war als persönlicher Assisstent von Frau Bauer – von der sie eigentlich ausging, dass sie aktuell in Berlin war. Mit einem Stirnrunzeln stellte sie die Flasche auf dem Wohnzimmertisch ab und ging sockfuß zur Tür.
Der Replikant grüßte sie in seinem neutralen höflichen Ton mit abgewandten Blick und nannte seine Kennziffer und Tätigkeit. “Ich habe eine persönliche Lieferung für Madame Docteur Suzanne Anaïs Camille de Montpellier. Ich bitte um Nennung ihrer persönlichen Identifikationsnummer zur Verifizierung vor der Übergabe.”
Weiterhin stirnrunzelnd nannte Suzanne dem Replikanten, der ein schmales Päckchen in den Händen hielt, ihre Identifikation. Daraufhin überreichte dieser ihr das Paket, auf dem ein gut sichtbares Emblem der EUFOR prangte. “Weiterhin soll ich Ihnen von Frau Bauer ausrichten, dass sie erfreut ist Ihnen diese neue Perspektive zu eröffnen und hofft, dass Sie vor Ihrer Abreise einen Umweg nach Berlin machen, so dass sie gemeinsam mit Ihnen anstoßen kann.”
Mit den Gedanken nun gänzlich woanders entließ Suzanne den Replikanten und schloss die Tür einfach direkt in sein Gesicht. Die Augen weiterhin auf das Paket gerichtet, ging sie langsam zurück zu ihrem Sofa und der Weinflasche und machte sich nach einem weiteren großen Schluck daran mit ansteigendem Herzklopfen das Paket zu öffnen.
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