Habanera
Liebe ist wie ein wilder Vogel
Wer den will zähmen
Hat es schwer
Ganz umsonst wirst du nach ihm rufen
Wenn er nicht will
Kommt er nicht her.
Paris, Mitte Juni 2118
Nachdem der letzte Patient gegangen war, nahm Suzanne die wenigen Schritte über den Flur zu der Tür des anderen Behandlungszimmers. Es hatte einige Tage gedauert, bis Vincent selbst die Praxis mal wieder mit seiner Anwesenheit beehrte und selbst heute war er nur am Nachmittag für wenige Stunden anwesend. Sie war sich jedoch bewusst, dass alle Patienten, die heute seinen Behandlungsraum verlassen haben, sehr zufrieden mit der Aufmerksamkeit waren, die er ihnen geschenkt hatte, und seine Diagnostik wie stets perfekt gewesen war. Unabhängig davon was zwischen ihnen war, Suzanne musste eingestehen, dass Vincent auch heute noch einer der besten Ärzte war, die sie kannte, welcher nicht nur das Handwerk eines Mediziners verstand, sondern auch wusste wie er zwischenmenschlich den Patienten das geben konnte, was sie benötigten, um sich gut betreut und aufgehoben zu fühlen. Aber dafür benötigte es Zeit. Zeit, die sie oft nicht hatte, da sie ihren gemeinsamen Patientenstamm fast alleine stemmen musste. Aber – wenn alles so lief wie es sich just abzeichnete – gehörten diese Zeiten auch der Vergangenheit an.
Die Hand bereits über dem Touchpad zur Türöffnung hielt Suzanne dann aber doch für einen Moment inne und klopfte anstatt dessen mit einem Durchatmen.
“Oui?”
“Ich bin es, Suzanne.”
“Ah, komm gerne rein!”
Nun strichen ihre Fingerspitzen über das Pad und die Tür öffnete sich mit einem leichten Seufzen der Hydraulik. Vincent erhob sich von seinem Stuhl als sie eintrat und lächelte ihr freundlich zu. Nach all den Auseinandersetzungen, die sie die letzten Jahre gehabt haben, konnte sie trotzdem nicht abstreiten, dass ihr Ex-Mann auch mit über 50 ein gut aussehender Mann war. Er hielt seinen Körper stets trainiert und sein ehemals dunkelbraunes Haar, welches jetzt von vielen grauen Strähnen durchzogen war, verlieh ihm ein noch distinguierteres Aussehen als er eh bereits hatte. Und auch sein Lächeln, welches die Augen erreichte, war wie stets locker und gut gelaunt.
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“Suzanne Magimel?”
“Oui, das bin.”
“Willkommen auf Station E-2. Bitte schauen Sie in die Kamera.”
Die Replikantin in dem weißen Kittel der Krankenhausangestellten deutete auf eine auf durchschnittlicher Kopfhöhe angebrachte Kamera, welche erst einmal Suzannes Retina abscannte zur Prüfung ihrer Identität und dann die Barriere zu der Schleuse öffnete, in die sie von der Replikantin geleitet wurde. Mit dem ihr bekannten Prozedere, welches bei jedem Eingang der einzelnen Stationen des Krankenhauses auf Besucher wie Ärzte und somit auch auf Praktikanten so wie sie wartete, trat sie unter das umgedrehte U des Körperscanners und legte ihren kleinen Finger auf die entsprechende Vorrichtung, so dass ihr Körper auf Waffen oder unerlaubte Gegenstände, sowie ihr Blut auf ansteckende Krankheiten untersucht wurde. Nach wenigen Sekunden und einem kaum merkbaren Pieks in ihren Finger wurde der Abschluss der Prüfung durch ein grünes Licht bekannt gegeben und Suzanne nahm die weiteren Schritte in die Chirurgie, in der sie jetzt für die nächsten Wochen der vorlesungsfreien Zeit eingeteilt war. Auf der anderen Seite der Schleuse nahm sie von der Replikantin ihre ID Karte sowie ein Pad entgegen, welches ihr direkt den Weg zu ihrem nächsten Ziel angab. Dr. de Montpellier, Gefäßchirurgie. Sie hob erfreut die Brauen darüber, dass ihrem Wunsch stattgegeben wurde, um Erfahrung in der Gefäßchrirugie zu sammeln und mit federendem Schritt machte sie sich auf den Weg durch die sterilen Krankenhausgänge.
“Ah, Mademoiselle Magimel.” Sie wurde von einem äußerst gutaussehenden Doktor mit gewinnendem Lächeln und dunkelbraunen Haaren, an denen die Schläfen anfingen zu ergrauen, direkt freundlich begrüßt, nachdem sie durch die Tür getreten war. Sie schätzte, dass er um die zehn bis fünfzehn Jahre älter als sie war aber seine offene Mimik und das breite, zahnweiße Lächeln hatten einen direkten Effekt auf sie und sie spürte wie ihre Wangen leicht erröteten als er ihr die Hand zur Begrüßung hinhielt. “Willkommen in der Gefäßchirurgie.”
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Die gute Laune von Vincent schwappte heute allerdings nicht auf sie über und sie behielt ihre möglichst neutrale Miene.
“Was gibt es denn, Suzanne?”
“Wir müssen reden.”
“Ja? Ich dachte, das hätten wir hinter uns gelassen.” Er lachte locker scherzend mit einem Augenzwinkern während er sich halb stehend mit dem Hintern auf seinem Schreibtisch niederließ.
“Vincent. Es ist mir wirklich ernst.”
“Ah, naturellement, minette.” Seine Lippen blieben in einem Lächeln, welches aber entschuldigend wurde. Seine braunen Augen bekamen den Ansatz eines Hundeblicks während sie für einen Herzschlag die Augen schloss als das Kosewort über seine Lippen drang und sie beruhigend einen tiefen Atemzug nahm, um ihn nicht direkt anzukeifen. “Also, worum geht es denn?”
“Ich werde aus der Praxis austreten so schnell wie möglich.”
Nun verstummte auch sein Lächeln und seine Miene wurde ernst mit einem Anflug von Kühle. “Hat das Krankenhaus angerufen?”
“Nein. Aber es hat sich eine andere…Perspektive ergeben. Nicht in Paris.”
“Du…ziehst weg? Wohin?”
“Das…kann ich Dir nicht sagen.”
Vincent krauste die Stirn und sie konnte sehen, wie sich seine Zähne aufeinander drückten und seine Kiefermuskeln arbeiteten bevor er langsam nickte. Sie wich seinem Blick, in den ein merkwürdiger Schatten gekrochen war, aus und schob ihre Brille zurecht. “Kannst Du nicht oder willst Du nicht?” fragte er nach einem längeren Moment des Schweigens zwischen ihnen.
“Beides.” Seine Lider zuckten als hätte ihre direkte spitze Antwort ihn geohrfeigt.
“Minette…”
Sie unterbrach ihn direkt.
“Vincent. Wir sind geschieden.”
“Ja, weil Du es wolltest. Ich habe,” er machte eine lockere Handgeste, “Deinem Wunsch nur nachgegeben auch wenn ich es nicht verstehe.”
“Wir haben wirklich oft genug darüber gesprochen,” antwortete sie scharf.
“DU hast darüber gesprochen. Mich angeschrien. Mir Vorwürfe gemacht. Nicht umgekehrt.”
Sie spürte wie die Wut wieder in ihr zu brodeln begann. Wut aus Verletztheit, aus Enttäuschung. “Es war Deine Entscheidung mich hier alleine zu lassen mit Deinen Patienten und Dich einen Scheiß zu kümmern. Mich zu Hause alleine zu lassen und mir kein Ehemann mehr zu sein. Du bist ein fantastischer Arzt aber vergeudest Deine Zeit und Dein Talent mit irgendwelchen…Fatzkes beim Golf nur weil diese Dein Ego streicheln.”
Seine Stimme erhob sich jetzt leicht und wurde härter als er sich vom Tisch abdrückte.
“Ich muss nicht hier in diesem Raum sitzen, um ein guter Arzt zu sein. Und diese Fatzkes sind ein Grund warum wir so leben können, wie wir es tun. Außerdem ist es meine Entscheidung, wie ich meine Tage verbringe. Ich bin Dir keine Rechtfertigung schuldig.”
Sie warf ihre Hände die Luft. “Ich war Deine Ehefrau. Natürlich bist Du mir eine Rechtfertigung schuldig gewesen.” Sie hob ihre Hand stoppend bevor er antworten konnte und atmete tief durch. “Vergiss es. Ich bin nicht hergekommen, um mich zu streiten.”
“Ich hatte noch nie vor mich mit Dir zu streiten,” stellte Vincent mit einem Achselzucken fest als wäre nichts geschehen und sie benötigte einen weiteren tiefen Atemzug, um ihm nicht direkt an die Gurgel zu gehen.
“Ich wollte Dich nur darüber informieren wie es ist. Ich lasse meinen Anwalt die nötigen Dokumente fertigstellen.”
“Ziehst Du weit weg?”
“Wenn…alles so läuft wie ich es mir vorstelle ja. Sehr weit weg.”
“…das klingt nach aus Frankreich fort.”
Sie nickte nur bestätigend ohne zu erwähnen wie weit fort es in diesem Fall war woraufhin Vincent mit seinen Finger durch seine Haare fuhr und ebenso nickte.
“Ich schätze Du willst soweit wie möglich von mir fort.”
“Darum geht es nicht, Vincent.”
Stille fiel zwischen ihnen während seine Augen über ihr Gesicht wanderten und sie sich etwas versteifte bei dem Blick, der in seine dunklen Augen trat. Einige Herzschläge später überbrückte er die Distanz zwischen ihnen mit wenigen, langen Schritten.
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“Dr. de Montpellier?” Suzanne linste in das Büro des Chirurgen, von dem sie sich verabschieden wollte, jetzt wo ihr letzter Tag des Praktikums vorbei war. Wie meist war seine Tür nicht geschlossen und er bat sie mit einem lockeren Lächeln direkt hinein.
“Mademoiselle Magimel! Wie kann ich Ihnen helfen?”
“Ich bin nur gekommen, um mich zu verabschieden.” Suzanne lächelt etwas schief zu ihrem bisherigen Vorgesetzten. Sie hatte viel gelernt von ihm in den letzten Wochen, einerseits über die Gefäßchirurgie und die Arbeit im Krankenhaus aber auch darüber sich selbst zusammen zu reißen und in die lockeren Flirtereien des Arztes nichts hinein zu interpretieren. Mittlerweile wusste sie, dass er knapp fünfzehn Jahre älter war als sie selbst, noch dazu ein angesehener Chirurg und sie nur eine Medizinstudentin, die noch grün hinter den Ohren war. Ihre engsten Freunde hatten ihr bestätigt, dass es sehr unwahrscheinlich war, dass er tatsächlich etwas von ihr wollte, sondern wahrscheinlich nur einen Zeitvertreib in dem lockeren Geplänkel sah. Doch jetzt war sie schon aus der Spur geworfen und ziemlich vor den Kopf gestoßen, als er antwortete.
“Ah, wunderbar. Endlich!” Entgegnete er mit einem freudigen Strahlen.
Sie blinzelte. “Ehm…Endlich?”
“Endlich.” Er nickte bestätigend und schmunzelte. “Denn dann kann ich Sie endlich zum Abendessen einladen.”
“Zum Abendessen?” Sie erötete und spürte wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. “Das klingt wie…ein Date?”
“Das soll nicht nur so klingen…”
“Oh…” Erneut blinzelte sie, dann verzogen sich ihre Lippen zu einem breiten Grinsen. “Wann?”
“Haben Sie heute Abend schon etwas vor?” Er zwinkerte ihr zu als sie verneinte.
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Lachend hielt sie sich an Vincents Nacken fest als er darauf bestand sie über die Schwelle ihrer gemeinsamen Wohnung zu tragen. Die Sonne war bereits dabei wieder aufzugehen nach den langen Feierlichkeiten zu ihrer Hochzeit und immer noch strömte der Restalhokol durch ihr Blut, als er mit dem Fuß die Tür zu ihrem Schlafzimmer aufstieß.
“Je t’aime, minette.”
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Die Sonne war bereits dabei wieder aufzugehen aber sie beide hatten keinen Schlaf gefunden in dieser Nacht. Hatten nur eng umschlungen da gesessen während Vincent mit ernster, sorgenvoller Miene ihre Tränen getrocknet hatte. Die Ergebnisse des Tests waren niederschmetternd gewesen und hatten bestätigt, dass Vincent und sie niemals eine Familie zusammen gründen würden können. Selbst mit der Medizin des 22. Jahrhundert gab es Umstände, die nicht überbrückt werden konnten. Sie hatten andere Varianten besprochen aber sie wollte kein Kind mit einem anderen Erbgut oder eine der anderen Varianten. Und so hatten sie sich entschieden, dass ihre Familie auf Ewigkeit wohl nur aus ihnen beiden bestehen würde. Es tat weh aber eines Tages würde dieser Schmerz auch verblassen. Gemeinsam waren sie stark.
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Die Sonne war bereits dabei wieder aufzugehen, als das elektronische Piepen ihres Weckers sie aus dem Schlaf riss. Ein Blick auf das Bett neben ihr, was immer noch genau so makellos war wie der Putzreplikant es vor zwei Tagen verlassen hatte, bestätigte ihre Vermutung. Sie hatte keine Ahnung wo Vincent war, nur, dass er mit einer kurzen Sprachnachricht mitgeteilt hatte, nachdem sie mehrfach versucht hatte ihn zu erreichen, dass er mit gemeinsamen Bekannten unterwegs war. Wahrscheinlich würde er zurück kommen, eine Fahne nach teurem Wein und irgendeinem Parfum oder Aftershave haben. Er hatte ihr vor einigen Wochen gesagt, dass er nicht fremdgehen würde und Gott wusste wie sehr sie ihm glauben wollte, aber nach all den Tagen alleine in der Praxis und all den Abenden und Nächten alleine in der Wohnung trübte die Einsamkeit jegliche Fähigkeit zur rationalen Beurteilung der Situation. Sie wusch sich mit eiskaltem Wasser das Gesicht und trug ihre kühlende Augencreme auf in der Hoffnung, dass sie die tiefen Augenringe von zu vielen durchwachten Nächten mit zu vielen Tränen irgendwie kaschieren würde, bevor sie wieder einsam den Weg zu ihrer gemeinsamen Praxis nahm.
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Die Sonne war bereits dabei unterzugehen als sie sie mit den Worten, dass ihr Anwalt ihm die nötigen Dokumente zukommen lassen würde, Vincents Behandlungsraum wieder verließ während sie sich den Rock wieder über die Knie zog. Dies war der einzige Punkt ihrer Ehe gewesen, der tatsächlich bis ans Ende harmonisch verlaufen war. Doch es war nicht genug für eine gute Ehe. Nicht genug. Mit leicht zittrigen Fingern richtete sie ihre Haare bevor sie ihren Mantel nahm und aus der Praxis ging während sie über ihre Smart Watch ein Zugticket für den Juli nach Berlin und von dort aus nach Siegen buchte.
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